Leistungsfähigkeit, Grenzen und Anschlußfähigkeit des Editionsverfahrens.
Leistungsfähigkeit und Grenzen.
Bei einer Diskussion der Leistungsfähigkeit und der Grenzen dieser elektronischen Edition kann man beobachten, wie die neue Technik des wissenschaftlichen Arbeitens einerseits alte Probleme der Editionstheorie neu akzentuiert aber darüber hinaus auch neue Fragestellungen, Interpretationsmuster und Erkenntnisziele aufkommen läßt.
Da ist zunächst das alte, von Hans Zeller vor drei Jahrzehnten analysierte editionstheoretische Problem von Befund und Deutung in Bezug auf die inhaltliche Verschlagwortung des Bestandes.
Die inhaltliche Verschlagwortung des Bestandes bezieht ihre Kriterien weitgehend aus der Struktur des Bestandes, aus der seit den 80er Jahren einsetzenden Forschung zur Gegenkultur der DDR sowie aus der Transformationsforschung, die sich mit Problemstellungen beim Übergang von realsozialistischen zu marktwirtschaftlichen Gesellschaftssystemen nach 1989 beschäftigt. Das besondere Problem der inhaltlichen Erschließung der in Frage stehenden Quellen besteht in der Tatsache, daß die an den Heften mitarbeitenden Künstler und Autoren mit ästhetischen Verfahren arbeiten (experimentelle Poesie im weitesten Sinne, Objektkunst), die formale Spezifika der Artefakte zur eigentlichen Botschaft werden lassen. Diese Verfahrensweise ist aus den Avantgardebewegungen des 20. Jahrhunderts bekannt und reiht die Artefakte dergestalt in eine intertextuelle Kette ein. Ein Einzelbeitrag enthält über das Verschlagwortungssystem idealtypischerweise Informationen über folgende Felder:
Ästhetischer Status/Gattung; Materialität der Zeichen; Texttopographischer Status; Sprachliche Funktion/ Rhetorische Mittel; Intermediale Bezüge; Intertextuelle Bezüge; Verortung in der Gegenkultur der DDR über Personen, Institutionen oder Orte.
Die Metadaten der Edition liefern so auf der einen Seite geographische, biographische und historische Informationen, die die regionale Segmentierung der Gegenkultur ebenso sichtbar machen wie die Anteile verschiedener Künstler- und AutorInnen. Gruppenbildungen und Migrationsbewegungen werden nachvollziehbar, Stilkonstanten und Einflüsse besonders auch aus den Avantgardebewegungen des 20. Jahrhunderts und der Postmoderne werden belegbar, Zensur und Eingriffsversuche der Staatsmacht werden dokumentiert. Die ästhetische Gegenkultur der 80er Jahre in der DDR generiert so einen ästhetischen und sozialen Palimpsest, dessen soziale Funktion sich in erster Linie als Subversion, nicht als politische Opposition, beschreiben läßt. Es geht um die Propagierung alles dessen auf dem Feld der Künste, was der offiziellen, als kleinbürgerlich-verklemmt erlebten Kulturpolitik, als überwunden, degeneriert oder elitär-reaktionär galt.
Natürlich verdankt sich diese erkenntnis- und kommentarleitende These ein Stück weit der Programmatik der Edition. Durch die neuen elektronischen Medien ist es jedoch möglich, zumindest was den optischen Eindruck angeht, den Befund des Orginals stets kritisch vor Augen zu haben. Überdies kann der Benutzer der Edition über eine Liste des gesamten Schlagwortbestandes mögliche Inkonsistenzen im Schlagwortbestand erkennen.
Gleiches gilt für extrem komplexe Probleme der Texttopographie, Segmentierungsfragen sowie des Status von Zeichenclustern, deren Status zwischen Text und Bild changiert; das neue Medium demokratisiert den Zugang zum textkritischen Befund und setzt editorische Entscheidungen unter Begründungsdruck.
An die Leistungsgrenze des vorgestellten Editionskonzepts führt die Frage nach der Integration einer Volltextkomponente in die Edition komplexer handschriftlicher Überlieferungszusammenhänge und archivalischer Quellenbestände einzelner oder mehrerer. Die Erstellung eines Volltexts, der obendrein auch noch die texttopographischen Zusammenhänge zu repräsentieren hätte, gestaltet sich bekanntlich vorerst sehr aufwendig, wobei eine entlinearisierte texttopographische Darstellung in einer diplomatischen Umschrift zunächst auch als Bilddatei vorläge. Um eine Volltext-Edition der in Frage stehenden Bestände zu erreichen, müßte das Material nicht nur in eine, sondern auf zwei Ebenen, Volltext und diplomatische Umschrift zusätzlich aufbereitet werden, was im Förderungsrahmen nicht realisierbar war.
Anschlußfähigkeit
Das von uns entwickelte Verfahren erlaubt es zum einen, zum gegebenen Zeitpunkt weitere Zeitschriftenkollektionen oder andere Medien der Subkultur der DDR (Künstlerbücher, Filme) zu integrieren. Das Konzept könnte in diesem Zusammenhang für die Edition des Gesamtbestands der Quellen des DDR-Samisdat von Bedeutung sein. Mit der Umweltbibliothek Großhennersdorf in Sachsen, die federführend in letzteres Projekt eingebunden ist, wurde bereits Kontakt aufgenommen. Ein erster Erfahrungsaustausch fand bei einem Expertengespräch am 13.11.2000 in Großhennersdorf statt. Allerdings sind weitere Aktivitäten auf diesem Feld abhängig von einer erneuten Förderung durch Drittmittelgeber.
Das gewählte Editionsverfahren führt aber auch unabhängig vom Kontext der Erforschung der Gegenkultur der DDR zu einem methodischen Neuansatz, der über eine autorzentrierte Editionsphilologie hinausweist und einer, an der Rekonstruktion kultureller Kommunikationsprozesse interessierten Literaturwissenschaft archivalische Massendaten, umfassende Briefwechsel und handschriftliche Nachlaßkonvolute, zuführen kann.
Dr. Helmut Mottel