Aus: Jürgen Fuchs - Vernehmungsprotokolle*
26.11.
Da du nicht weißt, wann sie dich zum Verhör holen, bist du ständig in Erwartung. Heute holen sie dich nicht, aber das wissen nur sie. Du musst davon ausgehen, dass sie dich holen. Plötzlich kann die Tür aufgeschlossen werden, plötzlich kann jemand in der Tür stehen und irgend etwas sagen oder tun. Auf dieses "plötzlich" kommt es ihnen an Natürlich wissen sie, dass du ständig auf dem Sprung bist und keine Ruhe findest. Heute holen sie dich nicht, aber das weißt du nicht. Erst am Abend wirst du wissen, dass tagsüber keiner kam und die Zelle aufgeschlossen hat. Du wirst einen ganzen Tag warten, alle Flurgeräusche registrieren, hin und wieder aufspringen, wenn Nachbarzellen geöffnet oder verschlossen werden. Heute wirst du nicht geholt, aber das weißt du nicht. Morgen erst kannst die sagen: Gestern kam keiner, gestern wurde ich nicht geholt.
27.11.
Ein Buch / zumindest ein Buch / irgend etwas lesen / Christa Wolf, "Lesen und Schreiben", da ist die Rede von dem undenkbaren Umstand, ohen Bücher leben zu müssen / von heute auf morgen / auf einem Hocker sitzen und gelesene Bücher erinnern / das Vergnügen / die Überraschung, wenn Buchstaben Worte ergeben / Worte zu Sätzen werden / zu Gedanken / zu Gefühlen / "der Baum / größer als die Nacht" / Sprache / Schrift / aufstehen / setzen / der Weg vom Fenster zur Tür / von der Tür zum Fenster / Lesen: die Rückseite des Waschmittelpakets, das hinter dem Klobecken steht / IMI / eine Waschanleitung / eine Gebrauchsanweisung / Herstellungsort / Betriebsteil soundso / Worte / Sätze / sinnvolle / sinnlose / über das Reinigen von stark verschmutzten Textilien / Wäsche waschen /Gehirnwäsche waschen.
(* Jürgen Fuchs: Verneh-mungsprotokolle Nov.´76 bis Sept.´77;
Rowohlt, Reinbeck 1978)