Samisdat im Rückblick

Die DDR-Samisdate sind nicht nur Ausdruck einer zur Opposition fähigen Szene. Besonders in ihren „Leerstellen“, d.h. in ihren nicht zur Sprache gebrachten Diskussionsthemen, bezeugen sie darüber hinaus die große Entfernung zu den Möglichkeiten einer Demokratie.

So betont Andreas Schönfelder: Die Inhalte der Samisdate stellten sich auch als „ein indirektes Zeugnis für die fast vollständige Abwesenheit der Intellektuellen im Osten“ gegenüber „einer kritischen Bestandsaufnahme über den gesellschaftlichen Zustand in der DDR“ dar. (1*)

Trotz des Wunsches, sich mit den Mitteln des Samisdat frei auszudrücken, verrät jedoch die Sprache der illegalen Druckwerke einen bestimmten Grad an Selbstzensur: Das „Schmoren im eigenen Saft, das Drumherumschreiben, die fehlende klare und eindeutige Sprache“ – die Texte hatten eine kodierte Sprache und waren damit in der Originalfassung in West-Deutschland nicht veröffentlichbar. (2*)
Gleichzeitig geben die Samisdate Auskunft darüber, was deren Autoren nicht erfassten, also Inhalte, Aspekte und Zustände, die ihnen unbekannt blieben.

Zu den auffällig fehlenden Themen gehörten u.a.:
- der Mythos von Antifaschismus von DDR
- die fehlende Diskussion über wirtschaftliche Fragen

Der differenzierte Blick über die Inhalte sowie über die Grenzen der Diskussionsthemen im Samisdat ist ein integrierter Bestandteil der Samisdat-Forschung. Über die existierenden Defizite hinaus, repräsentiert das Samisdat-Phänomen nicht nur die Vorgeschichte der Friedlichen Revolution, sondern auch ein Zeugnis des Verantwortungsbewusstseins, der Grundstein jeder demokratischen Gesellschaft. Sich mit diesen Themen auseinanderzusetzen bewahrt vor Fehlinterpretationen bezüglich des diktatorischen DDR-Regimes und weist auf die Erinnerungskultur hin.
(1* - Quelle: "Samisdat in Mitteleuropa. Prozeß - Archiv - Erinnerung" : (Hg.) Walter Schmitz, Andreas Schönfelder, Matthias Buchholz, Tom Sello; Thelem, Dresden 2007 - S. 25)
(2* - Quelle: Interview mit Roland Jahn in: "Freiheit und Öffentlichkeit. Politischer Samisdat in der DDR 1985-1989" : (Hg.) Ilko-Sascha Kowalczuk, Robert-Havemann-Gesellschaft e.V., Berlin 2002 - S. 147)
ULRICH ZIEGER
 
die suche ist alt und verstanden
zwei gedichte für R. Frenzel

I
ich singe vorm fenster den fisch
der das licht trägt
inmitten der küche
die küche ist schwarz
die mutter riecht fremd
zwischen mutter und licht steht
ein briefträger
zwischen den tagbildern
halswirbeln gottsuchen
oder ein wundbett zuweilen im gas
aber ohne den zwang einer antwort
der sprechende körper
ist langsam und dort ist ein haus
und ein fest
ist in diesem nicht länger gefunden
ich singe vorm fenster
den gasmann

II
morgen begebe ich mich in die alten gebäude
morgen besuche ich Sie in der Baumgarten-Crusius-Strasse
morgen vernichte ich alles von mir je gewünschte
und Sie und die übrigen wohnungen
danach vernichte ich mich
und beschreibe den tag als gelungen
vernichte den tag als entschuldigtes kind meiner mißgunst
und kinder und kindeskinder werden von meiner hand sterben
daraufhin werd ich nicht stumm sein
ich kann so bald nicht überantworten
was ich geglaubt habe und was gefunden ist

daraufhin werde ich nicht mehr gesagt sein
der vodka wird Lua Loi heißen ohne mein warten
ich dachte tatsächlich ich sänge und hörte doch nichts als gesang

(In: Wohnsinn, 1987 - in Reihe Radix-Blätter)