Wenn der "Tag X" kommt ...

Der "Tag X" beschreibt den Fall einer inneren Krise, eines Verteidigungszustandes, dessen Planung bereits im Jahr 1967 durch die Direktive 1/67 des Ministers für Staatssicherheit, Erich Mielke, begonnen hatte.
Ernsthaftigkeit und Komplexität der Repressionsmaßnahmen zeugen vom gesellschaftlichen Zustand der DDR. Sie machen zudem deutlich, was in einem diktatorischem Regime bedeuten konnte oppositionell zu sein und welchen Risiken sich u. a. Herausgeber von Samisdat ausgesetzt sahen.
„Die Verhaftung missliebiger Bürger und ihre Überstellung in gesonderte Lager ist für Diktaturen charakteristisch und stellt, zumal in der Geschichte des 20. Jahrhunderts, kein Novum dar. Neuartig ist allerdings die bürokratische Perfektion und Akribie, die die Eventualplanungen des SED-Regimes kennzeichnen.“ (1*)
 

Reaktionen des Staatsapparates

Um auf die Staatsfeinde zu reagieren, verfügte das MfS über verschiedene Repressionsmaßnahmen. Dazu zählten z.B.:

- Inhaftierung
- Berufsverbot
- Ausweisung
- Ausbürgerung
- Reiseverbot
- Geldstrafen
- Einleitung eines Operativen Vorgangs
- Zersetzungsmaßnahmen
- die Isolierungslager
 

Operativer Vorgang

Unter Operativer Vorgang (OV) versteht man politische und strafrechtliche Ermittlungsverfahren des MfS, gegen unter Verdacht stehende Staatsfeinde. OVs sollten „vorbeugend ein Wirksamwerden feindlich-negativer Kräfte unterbinden, das Eintreten möglicher Schäden, Gefahren oder anderer schwerwiegender Folgen feindlich-negativer Handlungen verhindern und damit einen wesentlichen Beitrag zur kontinuierlichen Durchsetzung der Politik der Partei- und Staatsführung leisten.“ (aus der von Erich Mielke herausgegebenen Richtlinie 1/76 „zur Entwicklung und Bearbeitung Operativer Vorgänge“) „Ziel war es zu zersetzen, die beruflichen und zwischenmenschlichen Beziehungen zu zerstören. Dazu war es möglich, das gesamte Arsenal „operativ-technischer Mittel und Methoden“ einzusetzen wie Post- und Telefonkontrolle oder den Einbau von Wanzen und Videokameras in die Wohnung und am Arbeitsplatz.“ (aus: Wenn wir unsere Akten lesen – Handbuch zum Umgang mit den Stasi-Unterlagen, Berlin 1997, S.26)
 

Zersetzungsmaßnahmen

Die Zersetzungsmaßnahmen waren sowohl gegen Gruppen und Organisationen, als auch gegen einzelne Personen anzuwenden. Zu den Umsetzungsformen gehören:
- systematische Organisierung von Niederlagen, beruflicher, gesellschaftlicher oder/und persönlicher Natur, mit dem Ziel das Selbstvertrauen zu zerstören
- das Erzeugen von gegenseitigen Verdächtigungen sowie das Generieren und Verstärkung der Rivalitäten innerhalb von Gruppen.
Zu den Mitteln und Methoden der Zersetzung zählten:
- die Verwendung anonymer bzw. pseudonymer Briefe, Anrufe, etc…, kompromittierender Fotos sowie die gezielte Verbreitung von Gerüchten über die anvisierten Personen bzw. Gruppen
- die Vorladung von Personen zu staatlichen Dienststellen oder gesellschaftlichen Organisationen mit glaubhafter oder unglaubhafter Begründung. Für die Durchführung der Zersetzungsmaßnahmen wurden Inoffizielle Mitarbeiter (IMs) eingesetzt.
 

Die Isolierungslager

Die Stasi wäre an jenem Tag, am "Tag X", bereit gewesen, 84.500 DDR Bürger (die gesamte erfasste Opposition) in Isolierungslagern unterzubringen. Die Grenzen sollten geschlossen werden.
„In x + 24 Stunden sollten geeignete und konspirativ aufgeklärte Objekte mit Stacheldraht und Wachtürmen umgeben und das ganze Land mit Isolierungslagern überzogen werden. Hunderte von MfS-Mitarbeitern bereiteten diese Aktion seit Jahrzehnten vor und arbeiteten die entsprechenden Planungen ständig ‚tagfertig‘ auf.“ (1*)
In diesem sogenannten Vorbeugekomplex wurde weiterhin unterschieden zwischen „Internierung“ und „Isolierung“ über Kennziffer:
- 4.1.2. = Internierung, für Ausländer und Transitreisende vorgesehen
- 4.1.3. = Isolierung, für die erfassten DDR Bürger.
Im Verteidigungsfall sollten auf dem Gebiet der DDR insgesamt 35 Internierungslager mit einer Kapazität von 21.000 Personen und einer Maximalkapazität von 26.000 Personen errichtet werden.
Durch Bezirksverwaltungen des MfS im Vorbeugekomplex erfasste Personen (1*)
Kennziffer November 1986 Dezember 1988
4.1.1. Festnahme 3.510 2.901
4.1.3. Isolierung 15.780 10.539
4.1.4. Überwachung unzuverlässiger staatlicher Leiter 1.237 887
4.1.5. Erfassung feindlich-negativer Personen 51.135 70.245
gesamt 71.662 84.572
 
(1* - Quelle: "Vorbereitung auf den Tag X. Die geplanten Isolierungslager des MfS." von Thomas Auerbach, Die Bundesbauftragte, Berlin 1995)
Aus: Jürgen Fuchs - Vernehmungsprotokolle*
 
26.11.

Da du nicht weißt, wann sie dich zum Verhör holen, bist du ständig in Erwartung. Heute holen sie dich nicht, aber das wissen nur sie. Du musst davon ausgehen, dass sie dich holen. Plötzlich kann die Tür aufgeschlossen werden, plötzlich kann jemand in der Tür stehen und irgend etwas sagen oder tun. Auf dieses "plötzlich" kommt es ihnen an Natürlich wissen sie, dass du ständig auf dem Sprung bist und keine Ruhe findest. Heute holen sie dich nicht, aber das weißt du nicht. Erst am Abend wirst du wissen, dass tagsüber keiner kam und die Zelle aufgeschlossen hat. Du wirst einen ganzen Tag warten, alle Flurgeräusche registrieren, hin und wieder aufspringen, wenn Nachbarzellen geöffnet oder verschlossen werden. Heute wirst du nicht geholt, aber das weißt du nicht. Morgen erst kannst die sagen: Gestern kam keiner, gestern wurde ich nicht geholt.

27.11.

Ein Buch / zumindest ein Buch / irgend etwas lesen / Christa Wolf, "Lesen und Schreiben", da ist die Rede von dem undenkbaren Umstand, ohen Bücher leben zu müssen / von heute auf morgen / auf einem Hocker sitzen und gelesene Bücher erinnern / das Vergnügen / die Überraschung, wenn Buchstaben Worte ergeben / Worte zu Sätzen werden / zu Gedanken / zu Gefühlen / "der Baum / größer als die Nacht" / Sprache / Schrift / aufstehen / setzen / der Weg vom Fenster zur Tür / von der Tür zum Fenster / Lesen: die Rückseite des Waschmittelpakets, das hinter dem Klobecken steht / IMI / eine Waschanleitung / eine Gebrauchsanweisung / Herstellungsort / Betriebsteil soundso / Worte / Sätze / sinnvolle / sinnlose / über das Reinigen von stark verschmutzten Textilien / Wäsche waschen /Gehirnwäsche waschen.


(* Jürgen Fuchs: Verneh-mungsprotokolle Nov.´76 bis Sept.´77;
Rowohlt, Reinbeck 1978)